Die Dechantlacke

Die Dechantlacke ist keiner von den typischen, langgestreckten, mehr oder weniger bananenförmigen Altarmen der Donau, die noch an das schlangengleiche Mäandern des Flusses vor ein paar hundert Jahren erinnern. Die Dechantlacke erinnert von ihrem Umriß her eher an einen großen Patzen Spucke, der kraftvoll gegen eine Hauswand gespien wurde. Sie fasert an den Rändern aus wie eine Amöbe. Sie ist eine richtige Lacke. Nicht tief, aber weit, mit vielen kleinen Buchten. Die flachen Strandabschnitte der Dechantlacke sind schwer einzusehen, weil das, was der Wiener »Stauden« nennt, also dürftiges Strauchwerk, mit seinen feisten, hellgrünen Wassertrieben den weiteren Blick versperrt.
Die Dechantlacke ist seit vielen Jahrzehnten schon Zielpunkt der allsommerlichen Betriebsamkeit der Wiener Nudisten. Hier finden sie sich ein, nachdem die Unruhe sie
aus ihren Wohnungen, von ihren Arbeitsplätzen, aus ihrem leidvoll bekleideten Stadt-Dasein hervorgetrieben hat. Hier schlüpfen sie glücklich aus ihren meist häßlichen (weil ungeliebten) Kleidungsstücken und nehmen das ein, was ihnen als persönlicher Idealzustand eines freien Menschen erscheint.
Zwischen den Stauden verteilen sie sich, liegen teils im Schatten der Urwaldriesen, teils in der prallen Sonne der Buchten, wo sie ihre haarlosen Leiber, seltsame Stilblüten einer zweibeinigen Evolution, vom Weißen ins Rosige grillen lassen. Körperanhängsel aller Art ungehindert an sich herumpendeln lassend, tapsen sie, hitzebedingt hirnverbrannt, in ihrem kleinen, alteingesessenen Reich umher, sie grillen und essen und trinken und sind betrunken, sie singen und brüllen. Sie sind also wie alle anderen Sommermenschen, nur haben sie nichts an.
Diese Entschlossenen schaffen sich selbst an einem Wochentag wie dem Dienstag, dem 15. Juni, Zeit für ihr Plaisir. Oder sie haben diese Zeit ohnehin längst, weil sie die Arbeit aus dem einen oder anderen Grund aufgegeben haben, oder die Arbeit sie.

Hier an der Dechantlacke ist ein neuer Frontabschnitt im Feldzug des Unerwarteten gegen Wien. Verächtlich hat es sich von seinem letzten Spielplatz, dem alten Mann von Groß-Enzersdorf, abgewendet. Mürrisch und mit seinem uralten Pesthauch, den es bei schlechter Stimmung um sich verbreiten kann, die Tiere und Pflanzen des Waldes erschreckend, ist es wie ein dunkler Schleier durch das Dickicht geschwebt, dem Südosten, dem Hauptstrom zu – dieser regulierten Steinwanne! sagt es sich erbost. Aber dann ist da doch wieder dieser Geruch von Fleisch, dieser ganz und gar versöhnliche Geruch, dem es so selten widerstehen kann. Viel Fleisch, zwar eingeöltes, sonst aber unverborgenes Fleisch – das Unerwartete, erstaunt und schon wieder gut aufgelegt, stößt auf die Dechantlacke.

Hier lagert, mitten unter den anderen Nackten, das Ehepaar Prochaska. Edi Prochaska, bald fünfzig, Schweißer, aus dem 15. Distrikt, und seine untersetzte, mit ihren 26 Jahren aber noch immer irgendwie jugendliche und weichhäutige Frau Olga aus Polen.
Die Geschichte des Ehepaars beruht eigentlich auf dem Entschluß von Olgas Bruder Jiri Dombrowski, 1989 bei der Öffnung des großen Einmachglases Ostblock nach Westen zu ziehen. Jiri, ebenfalls Schweißer, hat Wien gemocht und sich also beim Edi Prochaska verdingt, der ohnehin vorhatte, sich auf irgendeine Weise etwas aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen, um sich winters dem Pool-Billard und sommers der Dechantlacke widmen zu können. Drei Jahre später sind in Danzig die kranken Eltern des Jiri gestorben, und die noch nicht einmal zwanzigjährige Olga hat niemanden mehr gehabt. Hat sie der Jiri nachkommen lassen. Haben die Behörden Aufenthaltsgenehmigungsschwierigkeiten gemacht. Hat der Edi Prochaska, dem Jiri für seinen Fleiß verpflichtet, sie geheiratet.
Der Prochaska, eigentlich ein eherner Junggeselle, hat schon bald Freude an der Ehe mit Olga gefunden und ihr
in den ersten vier, fünf Jahren mit großer Entschlossenheit eigentlich andauernd beigewohnt. Zweimal ist sie schwanger geworden, zweimal hat sie abtreiben müssen, weil der Edi Prochaska keine kleinen Kinder aushält. Vielleicht hat ihr das das Herz gebrochen, vielleicht war es auch alles zusammen, seit dem Sterben ihrer Eltern. Seit zwei, drei Saisonen nun hat sich Edis Feuer etwas gelegt, aber Olga besitzt für ihren Mann auch die Vorteile des Kochens und des Putzens, und mit derselben Wut, mit der er ihr in den ersten paar Jahren nachgestiegen ist, überwacht der Edi Prochaska nun das Einhalten dieser Pflichten. Sommers darf die Olga mit dem Edi zur Dechantlacke, obwohl sie sich für die allgemeine und die eigene Nacktheit dort noch immer geniert, aber dem Prochaska ist es lieber, sie holt sich an seiner Seite einen Sonnenbrand und macht ihm die Biere auf, als wenn sie zu Hause hockt und womöglich gar nix arbeitet.
Olga Dombrowski hat den Prochaska, ihren Mann vor dem Gesetz, niemals wahrhaft geliebt und mit den Jahren sogar hassen gelernt. Aber sie ist ein gläubiges Mädchen, und sie gesteht sich keine bösen Gedanken zu.
Die Prochaskas braten am Dienstag, dem 15. Juni, nebeneinander liegend in der nach einem regnerischen Wahlwochenende zurückgekehrten Vorsommersonne, zwischen ihnen ein halbleerer Sixpack und eine halb verzehrte Salami.
»Edi! Geh’ ich jetzt baden«, sagt Olga leise.
»Moch wos d’ wülst«, antwortet Edi, ohne die Augen
zu öffnen. Er liegt auf dem Bauch. Mit dunklen Gefühlen betrachtet Olga das Muster von Eindrücken, die das rosa Waffelhandtuch auf dem dunkelroten Hintern Edis hinterlassen hat.
Olga wandert über das kleine Rasenstück, auf dem die beiden lagern, durch eine Gruppe junger Trauerweiden und Essigbäume zum steinigen Strand, an dem gerade niemand ist.
Olga ist allein. Sie kniet sich an den Rand des Wassers und betrachtet darin ihr Spiegelbild. In einem Spiegel, der sich leicht bewegt wie jetzt die Oberfläche der Dechantlacke, als gerade jetzt ein mildes Lüftchen darüber hinwegstreicht, in einem Spiegel, der also nicht starr die unansehnliche angebliche Wahrheit wiedergibt, in einem solchen Spiegel ist Olga Prochaskas Gesicht noch immer sehr schön, ein rundes, barockes Puppengesicht, in dem nur die Kleinheit der Augen, die herabgezogenen Winkel des Mündchens unangenehme Kontrapunkte setzen.
Aber auf einmal … Da ist noch ein anderes Gesicht, sieht Olga. In ihrem eigenen Spiegelbild, oder darunter, unter Wasser.
Ein Gesicht mit grünen, leuchtenden Augen, aus denen grüner Balsam auch in Olgas Gedanken dringt.
Wir Frauen sollten uns keine Wohltat schuldig bleiben, nicht wahr, mein kleiner, nackter Schatz?
Ja, macht es erlöst in Olga Prochaskas Seele.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch, denkt Olga.
Niemand ist an der kleinen Bucht zugegen, also kann auch niemand sehen, wie plötzlich der Kopf der am Wasser knienden Schweißersgattin von gepflegten, wunderschönen, aber unsichtbaren Händen in das seichte Wasser gezogen wird, eines nahezu endlosen Kusses wegen. Olgas Gesicht verschwindet darin. Ihre dunkelbraunen Haare verschwimmen auf der Wasseroberfläche zu einer Blüte.
Der Kopf bleibt sechs oder sieben Minuten unter Wasser. Olga sollte längst erstickt sein. Aber weil niemand an der Bucht ist, kann auch niemand staunen, als sie ihn dann doch, wenn auch langsam, wieder aus der Dechantlacke hebt.
Das Unerwartete ist durch Olgas kleinen Puppenmund in ihr Innerstes gedrungen. Es hat von innen die arme Frau gestreichelt, an den Brüsten und in der Mitte, es hat von innen seine grüne Kraft der geplagten Schwester aus Polen gereicht.
Olga ist jetzt von innen schwer bewaffnet. Um ihren Kopf ringeln sich ihre dunklen Haare. Ihr Puppengesicht ist wunderschön und tödlich. Langsam macht sie sich zu ihrem Lager und zu ihrem Mann Edi auf.
Als ihn das Wurstmesser zum ersten Mal in den sonnenverbrannten Hintern trifft, wirft sich der Schweißer Edi Prochaska noch herum und reißt die Augen auf. Er sieht das Gesicht der Frau, mit der er seit sechseinhalb Jahren verheiratet ist. Und obwohl er begreift, daß ihn diese Frau jetzt umbringen wird, kann er sie doch für den winzigen Bruchteil einer Sekunde noch wunderschön finden. Olgas Mund ist offen, ihre nassen Haare hängen ihr schlangenhaft ums Gesicht, ihre Haut ist so weiß, als hätte sie im ganzen Leben kein Sonnenstrahl getroffen.
Ihre Augen sind grün. Das ist mir noch nie aufgefallen, denkt Edi, und dann kommen die Stiche von vorn und machen einer nach dem anderen Schluß mit ihm. Solange er noch kann, schreit der Prochaska laut und schrecklich, und zwischen den Stauden erscheinen zahlreiche Gesichter.
Sekunden später steht ein gutes Dutzend aufgeregter Nudisten im Wald und spricht über Mobiltelefone mit der Polizei.

Als die Kommissarin am Tatort eintrifft, haben die Uniformierten den Strandabschnitt bereits weiträumig abgesperrt. Die Nudisten reden noch immer in ihre Telefone, nunmehr, um ihren Verwandten und Bekannten von dem zu erzählen, was sie gesehen haben.
Die Kommissarin tritt an die Absperrung, und bevor sie darunter hindurchgleitet, denkt sie noch: Wir sind Helden. Helden, weil wir das hier sehen, weil wir davon Zeugnis ablegen können, weil wir Kraft unserer Sinne erklären können: Das Böse ist wirklich. Deshalb sind wir Helden, denkt sie, so einfach ist das.
»Und?« fragt sie, als sie bei der Leiche des Prochaska ankommt.
»Er und seine Frau kommen schon seit Ewigkeiten hierher«, beginnt der Chef der Uniformierten, »Sie …«
»Schneller«, sagt die Kommissarin.
»Gar nix«, sagt der Uniformierte ein bißchen beleidigt, »die Tante dort vorn, seine Frau, geht baden, kommt zu-
rück, nimmt den Wurstfeitel und zerlegt den Typen. Aus. Wir haben zirka 14 Zeugen.« Die Täterin, ergänzt er, habe sich widerstandslos festnehmen lassen. Wo? Gleich vorn, am Wasser.
Die Kommissarin läßt den Schweißermeister Edi Prochaska wieder zudecken, weil sie schon ein paar kleine Fliegen auf ihm entdeckt hat.
Olga Prochaska hockt, noch immer nackt – und sehr weiß, wie die Kommissarin bemerkt –, am Ufer. Die Hände sind mit glänzenden Achtern hinter dem Rücken fixiert. Eine Puppe, denkt die Kommissarin. Olga Prochaska rührt sich nicht.
»Frau Prochaska?« beginnt die Kommissarin.
Olga schaut sich nicht einmal um.
»Hallo!« Die Polizistin stößt sie an der Schulter an. Keine Regung.
Sie bemerkt, daß ihre Täterin tot ist. Schon wieder, denkt die Kommissarin. Dann hört sie etwas Grauenhaftes: das Husten einer Toten.
Die Mörderin Olga Prochaska hustet tatsächlich im Tod und spuckt jenes Stück ihrer Zunge aus, das sie abgebissen und dann verschluckt hat, um zu ersticken und über die ganze Geschichte nicht mehr reden zu müssen.
Solche Dinge sehen, denkt die Kommissarin Mimi Sommer ein weiteres Mal, als sie schließlich in ihren Opel steigt, das macht uns zu Helden. Böse Helden, gute Helden? Superhelden jedenfalls.

ernst molden / austreiben / deuticke 1999

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